Das kluge Mädchen wird Zarin*


Ein Zar gab einmal den Befehl: Wer den und den Stein schlachtet, dass das Blut davonfließt, den will ich zum Ersten meines Reiches machen.

Von allen Seiten kamen wackre Burschen herbei, aber keiner konnte den Stein schlachten; sie fanden es nur wunderlich, wie man überhaupt einen Stein schlachten könne.

In einem Dorf gab es ein sehr kluges Mädchen. Sie hütete die Schafe. Als sie davon hörte, verkleidete sie sich als Mann, ging zum Zaren und sagte zu ihm: "Oh Zar, ich kann den Stein schlachten."

Überallhin ging das Gerücht, es habe sich ein Mensch gefunden, den Stein zu schlachten, und zahllose Leute sammelten sich, um zu sehen, wie er das machen werde.

Als der Tag kam, an dem das Mädchen en Stein schlachten sollte, zogen der Zar und alle Vornehmen aus der Stadt auf einen freien Platz, und dort sollte das Mädchen vor aller Augen den Stein schlachten. Das Mädchen zog das Messer, wandte sich zuum Zaren und sagte:

"Zar, du willst doch, dass ich den stein schlachten soll? So gib ihm vorher Seele und Leben und wenn ich ihn dann nicht schlachte, nimm meinen Kopf."

Der Zar wunderte sich über diese Antwort und sagte: Du bist der Klügste in meinem Reiche, und ich will dich zum vornehmsten Manne machen; und wenn du mir noch das vollbringst, was ich dir jetzt sagen werde, sollst du mir wie ein Sohn sein."

Das Mädchen sprach: "Sage Zar, was du sagen willst, und wenn es möglich ist, will ich mich bemühen, es zu vollbringen."

Der Zar sagte ihr: "In drei Tagen sollst du wieder vom Dorfe hierherkommen. Wenn du kommst, sollst du reiten und nicht reiten, sollst mir ein Geschenk bringen und nicht bringen; alle, groß und klein, wollen wir herauskommen und dich empfangen, und du sollst die Leute dahin bringen, dass sie dich empfangen und nicht empfangen."

Die Hirtin ging nun in ihr Dorf und gab den Bauern den Auftrag, vier Hasen und zwei Tauben lebendig zu fangen. Die Bauern taten das.

Am dritten Tag, da sie zu dem Zaren gehen sollte, steckte sie die Hasen je in einen Sack, gab sie den Bauern zu tragen und sagte: "Wenn ich euch sage, ihr sollt sie loslassen, dann lasst sie los."

Sie selbst nahm die beiden Tauben, setzte sich rittlings auf eine Ziege und machte sich auf zu dem Zaren; einige Leute hatte sie vorausgeschickt, sie anzukündigen.

Sobald der Zar das hörte, zog er aus der Stadt, sie zu empfangen, mit allen Vornehmen und zahllosen Stadtleuten.

Als nun das Mädchen nicht mehr weit von dem Zaren war, sah sie die Menge Menschen, die herausgekommen war, sie zu empfangen, und sowie sie ihnen nahekam, befahl sie den Bauern, vor den Augen der Leute die Hasen loszulassen. Da sie das sahen, rannten sie fort, die Hasen zu fangen.

Die Hirtin, die rittlings auf der Ziege saß, ging bald zu Fuß, die Ziege zwsischen den Beinen, bald hob sie die Füße auf und ritt auf der Ziege.

Als sie zu dem Zaren trag, zog sie die beiden Tauben aus dem Busen und reichte sie ihm. In dem Augenblick, in dem er die Hand ausstreckte, die Tauben zu nehmen, ließ sie sie aus der Hand, und die Tauben flogen weg.

Da sagte die Hirtin zu dem Zaren: "Du siehst, Zar, die Leute haben mich empfangen und nicht empfangen; ich bin geritten und nicht geritten; ich habe dir ein Geschenk gebracht und nicht gebracht."

Da sagte der Zar: "Von heute an sollst du mir wie ein Sohn sein."

Sie aber flüsterte ihm ins Ohr: "Ich bin kein Bursche, ich bin ein Mädchen.

Da nahm der Zar, der nicht verheiratet war, sie zur Frau. Und so wurde Hirtin durch ihre Klugheit Zarin.



*Aus 'Die schönsten Märchen der Welt für 365 und einen Tag' gesammelt von Lisa Tetzner