Die Geister auf dem Tung-Ting-See


Wang Shih war von solcher Körperkraft, dass er einen großen Steinmörser, in dem man viele Kilo Reis zerstoßen kann, allein hochheben konnte. Auch der Vater von Wang Shih war sehr stark. Er und sein Sohn liebten über alles das Fußballspiel.

Nun geschah es, dass der Vater im Alter von vierzig Jahren über den Tung-Ting-See fuhr und ertrank. 

Darüber waren acht bis neun Jahre hingegangen.

Da traf es sich, dass Wang auch über den Tung-Ting-See fahren und sogar über die Nacht dort bleiben musste. Er verankerte sein Boot, und derVollmond stieg auf, sein Licht floss über den Strom, der wie eine silberne Fläche schimmerte.
Während Wang auf diese Pracht schaute, stiegen plötzlich fünf Männer aus dem See empor. Sie brachten eine große Matte mit sich, die sie auf der Oberfläche des Wassers ausbreiteten.
Wang erschrak, denn er fürchtete, dass er es mit den Wassergeistern zu tun haben könnte. Er und seine Mannschaft verhielten sich still in seinem Boot und sahen nun, dass die fünf Männer Wein und Speisen aufstellten, und wenn sie mit den Schüsseln aneinanderstießen, dann gab es einen Klang, matt und dumpf, anders als bei gewöhnlichem Geschirr.
Der eine von den drei Sitzenden hatte ein gelbes Kleid, die beiden anderen ein weißes, alle aber trugen sie auf dem Kopf einen Turban, einen schwarzen Turban. Bei dem dämmerigen Mondlicht konnte Wang ihre Züge nicht unterscheiden. Die beiden Diener trugen schwarze Kleider. Wang hörte den im gelben Kleid sagen: "Dieser herrliche Mondschein heute ist wie geschaffen zu einem Trinkgelage." Ihre Stimmen waren so leise, dass Wang sie nicht verstehen konnte. Wangs Bootsleute hielten sich alle vor Furcht versteckt und wagten nicht, sich zu regen.
Wang indessen beobachtete den älteren der beiden Diener genau, der eine auffallende Ähnlichkeit mit seinemVater hatte, nur die Stimme war nicht die gleiche. Als die Mitternachtsstunde heranrückte, rief plötzlich einer: "Wir wollen diesen herrlichen Mondschein zu einem Ballspiel benutzen."
Sofort verschwand ein junger Diener im Wasser und brachte einen Ball herauf, so groß, dass er ihn mit beiden Armen umfassen musste. Das Innere des Balles aber schien Quecksilber zu sein, denn er war durch und durch leuchtend. Die Sitzenden erhoben sich, und der im gelben Kleid forderte den ältesten Diener auf, an ihrem Spiel teilzunehmen.
Und der Ball schwebte empor, zehn Fuß (3,14 m) hoch und noch mehr, und sein Glanz schwebte blendend durch die Luft.
Da plötzlich flog er mit sausender Gewalt weit fort und fiel gerade in Wangs Boot nieder.
Dies reizte Wang, ihn zurückzuwerfen.
Mit aller Gewalt stieß er den Ball empor. Aber er fühlte sich anders an, als Wang es von Bällen gewöhnt war, leicht und weich war er. Im Bogen stieg er empor zu gewaltiger Höhe, aus seinem Innern aber brach ein Strom von Licht und schoss wie ein Regenbogen zur Erde. Und gleiche einem Kometen, der den Himmel durcheilt, so stürzte der Ball ins Wasser hinab, aufzischend und verlöschend.
Da schrien die auf der Matte voll Zorn: "Welches Menschenkind wagt es, unsere reine Freude zu stören?" Der alte Diener aber sagte: "Nicht schlecht! Solche Bälle hat man in meiner Familie geworfen." Die beiden im weißen Kleid starrten ihn an: "Du alter Sklave, wie kannst du dich über uns lustig machen? Geh sofort mit dem Jungen und bring den gewandten Spieler hierher."
Wang sah, dass er nicht entfliehen konnte. Er ergriff das Schwert und stellte sich mitten im Boot auf.
In dem Augenblick waren der alte und der junge Diener bewaffnet bei ihm. Da aber erkannte Wang, dass es wirklich sein Vater war, und sofort rief er: "Vate, dein Sohn ist hier." Der Alte erschrak sehr, aber die Freude des Wiedersehens war groß.
Während der junge Diener zurückging, sagte der Vater zu seinem Sohn: "Verbirg dich schnell, sonst sind wir verloren."
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als drei Männer das Boot bestiegen: ihre Gesichter waren schwarz wie Lack, ihre Augen größer als Granatäpfel. Wang bot alle seine Kräfte auf, um das Boot loszubekommen und schnitt die Taue durch, dann packte er sein Schwert und schlug dem einen den Arm ab.
Der Arm fiel herab, und der Mann eilte davon. Es war der im gelben Kleid.
Doch jetzt stürzte sich einer der weiß gekleideten Männer auf Wang. Dem aber schlug er den Schädel ab, der plumpsend ins Wasser fiel.
Darauf verschwanden sie alle imWasser.
Plötzlich sah Wang in einem Strudel einen riesigen Rachen aus dem Wasser auftauchen, so tief und so breit wie ein Brunnen. Der Rachen stieß einen gewaltigen Sturm hervor. Wellen türmten sich bis zu den Sternen hinauf, und die Boote auf dem See wurden hin und her geschleudert, so dass dieSeeleute in große Furcht gerieten.

Nun aber befanden sich auf Wangs Boot zwei Steinanker, die beide hundert Pfund wogen. Wang ergriff den einen und warf ihn in das Wasser, dass es donnernd aufbrüllte.
Die Wogen begannen sich allmählich zu glätten. Dann warf er den anderen auch, um Wind und Wetter zu beruhigen.
Wang war nun im Zweifel, ob sein Vater ein körperloser Geist sei. Da sagte der Alte: "Ich bin noch nicht gestorben. Neunzehn von uns waren im See ertrunken, und alle wurden vonFischdämonen verschlungen. Ich allein bin unversehrt, weil ich Fußball zu spielen verstand. Die anderen aber wurden vomDrachenfürsten des Tung-Ting-Sees bestraft und hierher gebracht. Die drei Männer waren Fischgeister, und der Ball, mit dem sie spielten, war eine Fischblase."


Vater und Sohn kehrten glücklich nach Hause zurück. Von nun an achteten sie darauf, mit ihren Booten niemals mehr bei Nacht über den Tung-Ting-See zu fahren.